2. Hauptrunde im DFB-Pokal, VfL Osnabrück - SC Freiburg

Dienstag, 26. Oktober 2021, 20.45 Uhr *

Stadion "Bremer Brücke", Osnabrück *

VfL Osnabrück - SC Freiburg *

Das Pokal-Vorspiel

Mein Elternhaus steht in Bielefeld-Jöllenbeck, konkret am nördlichsten Rand der Stadt. Hinter dem Wohnzimmerfenster sind noch ein paar Äcker, dann fängt ein anderer Landkreis an und noch einen Steinwurf weiter ist die Landesgrenze zu Niedersachsen. Laut Navi – und auch ganz praktisch – liegt das Stadion „Bremer Brücke“ des VfL Osnabrück nur 45 Autominuten vom Haus der Familie Rischmüller entfernt. Deshalb war ich nach dem Bundesliga-Sieg in Wolfsburg gleich vor Ort, bei „Muttern“ geblieben, um Lebenszeit und Reisekosten zu sparen. Und weil Osnabrück nicht so weit von Bielefeld entfernt ist, war ich auch als junger Fußballfan ab und zu im kultigen Stadion „Bremer Brücke“. Mehr noch: Ganz am Anfang meiner Kommentatoren-Karriere, wenn man das so nennen darf, habe ich eines meiner allerersten Profi-Spiele aus Osnabrück übertragen. Arminia Bielefeld, die ich seit ein paar Monaten am Mikrofon begleitete, war ja in der Oberliga Westfalen unterwegs, damals war das die dritte, aber eben keine Profiliga. Ich wollte immer schon höher hinaus und hatte bei Radio Bielefeld vorgeschlagen, an jenem Sonntag mal ein Zweitligaspiel zu übertragen: VfL Osnabrück gegen Bayer Uerdingen. Zudem gelang es mir den mit mir befreundeten Fußballtrainer Ernst Middendorp als Co-Kommentator zu gewinnen. Da Ernst schon sein vielen Jahren seinen Trainer-Job auf anderen Kontinenten ausübt, derzeit in Südafrika, kennen ihn jüngere Fußballfans in Deutschland kaum mehr. Hier ein Zitat aus Veröffentlichungen von Arminia Bielefeld über „Power-Ernst“: „Ernst Middendorp baute Ende der 80er aus dem Nichts eine völlig neue, identitätsstiftende Mannschaft auf und führte Arminia in seiner zweiten Amtszeit von der Regionalliga in die Bundesliga. 2007 kehrte der brillante Motivator ein drittes Mal zurück nach Bielefeld und erreichte den nicht mehr für möglich gehaltenen Klassenerhalt, womit er sich wohl endgültig unsterblich gemacht hat."

Zurück ins Jahr 1991 – Ernst war bei Arminia entlassen worden und coachte nun den VfB Rheine in derselben Liga. Seine ganz großen Zeiten bei Arminia, wo er später zum Jahrhunderttrainer gewählt wurde, standen also noch bevor. Ich freute mich über seine Zusage als Co-Kommentator und machte damals in Osnabrück, mit ihm an der Seite, einen weiteren Schritt in Richtung eines Kommentatoren-Profis im Bundesligazirkus. Claus-Dieter „Pele“ Wollitz, der später Trainer werden sollte, erzielte beim 3:1 des VfL gegen Uerdingen zwei Tore.

An diese Episode von vor 30 Jahren musste ich denken, als ich am Dienstag wieder im Stadion der Lila-Weißen ankam. Weil ich sehr zeitig in Osnabrück angekommen war und nach dem Frühstück im Rahmen meiner Abnehmkur noch nichts gegessen hatte, gönnte ich mir, nachdem ich die Akkreditierung in einer Fan-Tankstelle des VfL abgeholt hatte, erstmal eine Pizza. Dann fuhr ich ins Stadion und war eineinhalb Stunden vor dem Anpfiff und 45 Minuten vor Beginn unserer Radioshow „Pokal Spezial“ bei baden.fm im Stadion. Die Bremer Brücke ist extrem eng – übrigens auch die Plätze auf der (neuen) Pressetribüne. „Vor drei Monaten hätte ich noch nicht hinter den Arbeitstisch gepasst“, erzählte ich lachend und auf meine abgespeckten 21 Kilo anspielend meinem Sitznachbarn David Hildebrandt. David schafft in der Presseabteilung des SC, hat den Journalistenberuf als Volontär und später als Redakteur aber unter meiner Leitung beim ReblandKurier gelernt. Wir kennen uns also recht gut. Als ich also mein Technik-Köfferchen ausgepackt und eingeklemmt hinter dem Klapptisch Platz genommen hatte, versuchte ich mit unserem Übertragungsgerät, einem sogenannten Musiktaxi, über eine LAN-Verbindung Kontakt zum Studio zu bekommen. Im Vorfeld war mir von der Presseabteilung des VfL mitgeteilt worden, das sei kein Problem, inklusive einer Not-Telefonnummer, wenn etwas nicht funktioniere. Nun, es ging nichts – von keinem der Ports und auch nicht nach vielfachen Versuchen, Kontakt zum Studio herzustellen. Über die Not-Nummer konnte ich zwar jemanden erreichen, Support – wie in solchen Fällen in der Bundesliga üblich - bekam ich aber nicht.

Ich entschloss mich also, auf die 1B-Lösung zurückzugreifen: Eine (durchaus teure) App in meinem iPhone, über die man ohne Qualitätsverlust (fast) in Studioqualität streamen kann; wenn man auf W-LAN zurückgreifen kann. Dummer Weise funktionierte das Presse-W-LAN in Osnabrück aber nicht. Meistens funktioniert diese App-Lösung aber auch mit LTE, zumindest wenn man diese Tarif-Option auf seinem Smartphone gewählt hat. Das Netz muss aber robust sein und es dürfen nicht zeitgleich zu viele Mobilfunkkunden darauf zurückgreifen. Wenn ich meine Einblendungen mit Hilfe der App streame, zuletzt übrigens komplikationslos beim Aufstieg der U23 des SC im Sommer im Saarland, schließe ich mein iPhone an ein Spezialgerät an, eine Art Kupplungsgerät, an das sich neben dem Endgerät auch eine gängiges Hörfunk-Mikrofon und ein Kopfhörer anschließen lässt. So setzte ich am Dienstag problemlos meine erste Schalte in der Pokal-Show von baden.fm ab. Als dann das Stadion immer voller wurde, wurde die Qualität des LTE-Netzes immer problematischer. Die Verbindung zum Studio brach zusammen. Ärgerlich! Hochgradig unter Strom stehend und mit dem Kopfhörer auf den Ohren bekam ich nur so halb mit, dass mich Stadionsprecher Carsten Thye, im Hauptjob Vertriebs- und Marketingleiter bei Radio Osnabrück und Livereporter der Auswärtsspiele seines VfL im Radio, sogar namentlich begrüßte (vielen Dank dafür, Carsten!). Ich gebe aber zu, dass mir der Kopf in dem Moment woanders stand. Ich entschied also vor Ort, dass wir mit den mir zur Verfügung stehenden Geräten statt zu streamen, was halt nicht möglich war, zu telefonieren. Schnell stand die Mobilfunkverbindung ins Studio und ich bereitete mich darauf vor, etwas nostalgisch, wie viele Jahre lang zuvor, auf GSM-Basis mit dem bereits vorgestellten Kupplungsteil zwischen iPhone und mir zu übertragen. Blöd war, dass von zwei Telefonleitungen, die im Sendestudio ankommen, nur noch eine auf das Mischpult zu schalten ist. Das wusste Moderator Benny Resetz auch nicht und Murphys Law wollte, dass ich natürlich auf der falschen Leitung verbunden war. So blieb eine weitere Anmoderation ohne Reaktion von der Bremer Brücke. Wir wechselten jetzt auf den anderen Telefonanschluss im Studio und endlich war technisch alles im Lot; mit etwas eingeschränkter Ton-Qualität, durch den Ausfall der Streaming-Möglichkeiten aber allemal ausreichend, um das Spiel zu kommentieren.

 

Das Fußballspiel

(Mein 1025. SC-Pflichtspiel als Livereporter im Radio)

Ab Minute 20 war ich also endlich „on air“. Ich berichtete von einem überlegenen SC zu Gast bei einem kampfstarken und offenbar zu allem entschlossenen VfL.

In der 33. Minute durfte ich dann auch jubeln: Lukas Höler hatte eine lange Flanke auf dem linken Flügel angenommen. VfL-Torwart Kühn hatte zunächst versucht, den Ball abzufangen, war ihm dann hinterhergelaufen und attackierte nun, außerhalb des Strafraums und fast an der Grundlinie den Freiburger Stürmer. Perfekt schirmte Höler den Ball ab und spielte dann einen klugen Rückpass auf Vincenzo Grifo, der höchst aufmerksam aus spitzem Winkel zum von Kühn verlassenen Tor einen Schlenzer Richtung Kasten ansetzte. Der perfekt platzierte Ball flog zwischen zwei Osnabrücker Verteidigern hindurch ins Netz. Es war die zu diesem Zeitpunkt verdiente Führung. Auch dass es zur Halbzeit 0:1 hieß an der Bremer Brücke, war leistungsgerecht.

Nach der Pause erkämpfte und erspielte sich der erstaunlich starke Drittligist eine unerwartete Dominanz. Entlastend muss angemerkt werden, dass der SC den Großteil seiner Mittelachse verloren hatte. Schon beim Warmlaufen war der Stratege im zentralen Mittelfeld, Nicolas Höfler, mit muskulären Problemen aus dem Rennen genommen worden. Janik Haberer stand stattdessen in der Startelf. Nach 27 Minuten war die Partie dann auch für Abwehrchef Philipp Lienhart zu Ende, der nach einem rustikalen Zweikampf mit dem Kopf auf den Boden aufgeschlagen war. Manuel Gulde kam dafür ins Team. Der Abend war also weder für unsere Radiotechnik, noch für den SC bis dahin optimal gelaufen. Und jetzt drückte und drängte der VfL Osnabrück auf den Ausgleich – allerdings widerstand die neu formierte Abwehr mit Keven Schlotterbeck zentral, eingerahmt von seinem Bruder Nico und Manuel Gulde dem Anrennen der Norddeutschen ganz gut. Irgendwann begann das Spiel nach einem knappen SC-Sieg zu „riechen“, ohne dass sich der Bundesligist in Osnabrück mit Ruhm bekleckert hätte.

Fünf Minuten Nachspielzeit wurden angezeigt und der SC hatte jetzt einige Situationen, in denen zu sehen war, dass es dem Bundesligisten jetzt darum ging, das Ergebnis zu verwalten. So hielten sich die Jungs mehrfach in der Nähe der Eckfahnen auf, ohne jetzt wirklich einen Torerfolg anzustreben. Als er sich bei einem Einwurf etwas zuviel Zeit ließ, zeigte Schiri Schröder Vincenzo Grifo die Gelbe Karte. Dann weiß man, jetzt packt der Unparteiische auf die ohnehin schon üppig bemessenen fünf Minuten Nachspielzeit noch ein Minütchen drauf. Die 96. Spielminute, Schröder pfeift Freistoß für Osnabrück. „Die wohl letzte Chance für den VfL“, kommentiere ich live bei baden.fm, „alle versammeln sich am und im Strafraum des SC, sogar Torart Kühn ist mit vorne.“ Die Freistoßchance verpufft, der Ball landet im Toraus. Die 97. Minute beginnt. Zur Verwunderung aller hat Schiri Schröder noch immer Spaß an diesem Spiel und schenkt den Osnabrückern eine nicht wirklich zu begründende weitere Chance. Der Eckball fliegt also in den Strafraum und der eingewechselte Gugganik köpft ein – 1:1 in Minute 90. + 7. Hier großer Jubel, da große Entrüstung. Christian Streich läuft nach dem Abpfiff aufs Spielfeld und zerrt seine Spiele weg vom offenbar überforderten Schiedsrichter, wirkt beruhigend auf seine Jungs ein. Es gibt Verlängerung.

Diese fand ich, anders als die zweite Halbzeit der regulären Spielzeit, in der Osnabrück besser gewesen war, ausgeglichen. Eine VfL-Szene war allerdings künstlerisch wertvoll: Der eingewechselte Kevin Schade verliert am gegnerischen Strafraum den Ball und der Drittligist fährt einen tollen Konter. Klaas spurtet mit dem Ball fast über das gesamte Spielfeld, lässt Nico Schlotterbeck aussteigen wie ein Weltmeister und trifft dann mit einem 18-Meter-Spannschuss in den Winkel (108. Minute). Osnabrück führt und ich spüre beinahe schon das Rasiermesser an meinem Vollbart…

Jetzt spielt Osnabrück viel auf Zeit. In der 117. Minute sieht Simakala, bei einer Einwurfsituation, ähnlich wie Grifo in der Schlussphase der regulären Spielzeit, „Gelb“. Da er schon verwarnt war, fliegt Simakala mit „Gelb/Rot“ vom Platz. Es sind aber nur noch drei Minuten bis zum Abpfiff. Die 120. Minute, ein letzter Angriff des SC. Höler kommt auf dem rechten Flügel zur Flanke, in der Mitte schraubt sich Keven Schlotterbeck hoch – ganz hoch – und der Innenverteidiger nickt den Ball ins Tor – 2:2, Abpfiff, es gibt Elfmeterschießen.

Ich erinnere mich: 2004 hatte der SC im Achtelfinale ein Elfmeterschießen in Paderborn mit 1:4 gewonnen. 2018, noch gar nicht so lange her, hatte es beim Erstrundenspiel in Cottbus einen 3:5-Erfolg nach Elfmeterschießen gegeben. Ich bin also durchaus optimistisch – bis Lucas Höler mit seinem ersten Elfer an Kühn scheitert, der den Ball an den Pfosten lenkt. Aber auch Benjamin Uphoff wehrt den Elfmeter von Kleinhansl ab. 0:0 nach zwei Versuchen – das passt irgendwie zu dem pannenreichen Abend, denke ich und jubele dann, als Christian Günter zum 0:1 trifft. Klaas gleicht aus. Zum jeweils dritten Elfer treten Maximilian Eggestein und Gugganig an – beide treffen, es steht 2:2. Keven Schlotterbeck, wenige Minuten zuvor umjubelter Ausgleichsschütze in der letzten Minute der Verlängerung, bleibt auch vom Punkt kühl und Itter scheitert an „Uppi“ Uphoff, der damit seinen zweiten Elfmeter hält. Jetzt ist klar: Wenn Wooyeong Jeong trifft, ist das Ding gelaufen – zugunsten des SC… Der Südkoreaner, der sowieso keinen Schokoladentag erwischt hatte, scheitert aber an Kühn. Jetzt liegt die ganze Last auf den Schultern zweier Männer: Osnabrücks Stürmer Wooten, der wenn er treffen sollte, alles wieder möglich macht, und Benjamin Uphoff, der zum Helden werden könnte, wenn er von fünf Elfern den dritten hält und den SC somit ins Achtelfinale bringt. „Uppi“ wird zum Helden! Der SC gewinnt, nach einem lausigen Spiel, im Elfmeterschießen bei Drittligist VfL Osnabrück (in Summe) mit 4:5 bzw. mit 2:3 nach Strafstoßtoren.

 

Das Nachspiel

Ich bin völlig durch. Die technischen Probleme, rund 130 Minuten Fußball gegen einen aufmüpfigen und rustikal zu Werke gehenden Drittligisten, das nervenaufreibende Elfmeterschießen und viel Trauer und Schocknachrichten im Privaten und im Hintergrund. Nicht weniger als drei Todesnachrichten aus meinem familiären, privaten und direkten beruflichen Umfeld habe ich heute erhalten – eine vierte, das weiß ich zu dem Zeitpunkt aber noch nicht, wird nach der PK dazukommen. Ich muss jetzt aber funktionieren… Ich fasse im Radio noch einmal das sportliche Geschehen zusammen und verabschiede mich.  Ich räume die (zum größten Teil heute nutzlose) Übertragungstechnik zusammen und bewege mich mit meinem Köfferchen die Tribüne hinab. Unten im TV-Interviewbereich sehe ich Benjamin Uphoff herumlaufen, direkt vor der Tribüne. „Den Scoop lasse ich mir nicht entgehen“, denke ich, gehe hin und frage den Torwart, ob ich ihn kurz für baden.fm interviewen darf. „Uppi“ stimmt zu und gibt mir ein entwaffnend ehrliches und zugleich sehr schönes und emotionales Interview. In solchen Momenten liebe ich meinen Job noch mehr als sonst schon. Ich gehe hinter die Tribüne und steige die Treppe hinauf zum Presseraum.  Die PK läuft ab, danach stellt sich Christian Streich meinen Fragen im Audio-Interview.

Ich verschicke die Aufnahmen mit Uphoff und Streich an baden.fm und atme tief durch. Dann kommt SC-Pressesprecher Sascha Glunk zu mir und teilt mir die vierte Todesnachricht an diesem Dienstag mit. Ich bin schockiert. Am Vormittag hatte ich erfahren, dass mein langjähriger französischer Freund Gilbert, der in Bielefeld eine Sprachenschule und ein Übersetzungsbüro geleitet hatte und Mitte der 80er Jahre mit mir zusammen, quasi als etwas älterer Mentor, eine Sprachreisen-Organisation aufgebaut hatte, gestorben war. Vor ein paar Monaten, als der SC bei Arminia unentschieden gespielt hatte, hatten wir noch zusammen auf der Terrasse vor dem Kreta gefeiert. Dann kam die Nachricht vom Tod des Kollegen Uli Homann bei mir an. Als ich Chefredakteur beim heutigen baden.fm war (damals Antenne Südbaden), war er Programmchef beim Freiburger Studio von SWR 4 – 26 Jahre, bis zu seiner schweren Erkrankung, hatten wir uns stets bei den Pressekonferenzen des SC getroffen. Zuletzt hatten wir bei der Stadioneröffnung des SC ein paar Worte gewechselt. Kurz vor dem Spiel hatte ich erfahren, dass meine Tante Helga aus Detmold verstorben ist und dann kam Sascha mit der traurigen Nachricht, dass es auch den kultigen Swamp-Gastwirt „Chico“, zugleich Kolumnist in der SC-Stadionzeitung „Heimspiel“, erwischt hat. Vier Tote an einem Tag aus meinem persönlichen Umfeld. Sorry, das ist too much. Aus Respekt vor den Verstorbenen endet hier mein Bericht.