Das Vorspiel
Stuttgart kommt. Trotz einer durchwachsenen Heimbilanz gegen die Schwaben (9 Siege, 1 Remis, 8 Niederlagen) habe ich gegen Stuttgart immer ein gutes Bauchgefühl. Die Basis dafür wurde schon im Herbst 1993 gelegt, als ich am Donnerstag, 4. November, und Freitag, 5. November, zum Vorstellungsgespräch und „Probearbeiten“ erstmals in Freiburg weilte und „Radio Freiburg FR 1“, das heutige baden.fm, als Bewerber um die Stelle als Redakteur/Sportchef kennenlernte. Am Freitag war klar, dass ich die Stelle bekommen würde und da am Samstag, 6. November, das Heimspiel des kleinen, etwas exotisch daherkommenden Aufsteigers SC Freiburg gegen den großen und berühmten VfB aus der Landeshauptstadt anstand, bin ich gleich vor Ort geblieben. Stuttgart war damals eine weitaus größere Hausnummer als heute und der Sportclub eine weitaus kleinere als anno 2018. Als künftiger Sportchef des Senders – der Vertrag ab 1. Januar 1994 war beschlossen – wollte ich das Baden-Württemberg-Derby natürlich unbedingt hautnah miterleben, erstmals Tuchfühlung aufnehmen, Freiburg, den SC, das Stadion, all das in mir aufsaugen, um Mut und Motivation für die Zukunft mitzunehmen, wenn ich wieder zurückfuhr, denn der Entschluss, meine Heimat und die Arminia zu verlassen, meine Familie sozusagen umzupflanzen, um diese Herausforderung in Südbaden anzunehmen, war mir gar nicht so leicht gefallen.
Das damalige Dreisamstadion, noch nicht ausgebaut, war brechend voll. Ich hatte einen Stehplatz in einem Bretterverschlag auf der kleinen Haupttribüne zugewiesen bekommen, stand hinter meinen Vorgängern Thomas Volk und Jürgen Theis, die damals im Zweierteam die Heimspiele des SC übertrugen. Der kleine Sportclub trotzte dem Favoriten und ging in der 18. Minute durch Oliver Freund mit 1:0 in Führung. Drei Minuten später unterlief Maxi Heidenreich ein Eigentor – 1:1. In der 33. Minute brachte Uwe Wassmer den Sportclub erneut in Führung – ein Favoritensturz bahnte sich an. Erst recht als es kurz vor der Pause auch noch Elfmeter gab für den SC… Eike Immel konnte den Schuss von Rodolfo Esteban Cardoso aber abwehren – es blieb eng und spannend; bis zum Abpfiff fiel aber kein weiteres Tor und damit hatte der SC den Favoriten aus der Hauptstadt besiegt, die Badener hatten die Schwaben in die Knie gezwungen und mein Herz gewonnen. Es war der Anfang einer ewig langen, noch heute andauernden Liebesgeschichte.
Dass im Rückspiel in Stuttgart dieses sensationelle 4:0 gelang, dass den Last-Minute-Klassenerhalt einleitete kommt bei meinem positiven Stuttgart-Feeling noch hinzu. Kleine Anmerkung: Die Situation des Sportclubs vor den letzten drei Spielen in Stuttgart, gegen Leipzig und in Duisburg, damals, anno 1994, war ernster als die des (zurecht) viel belächelten und verhöhnten HSV. Da ist viel Kokolores veranstaltet worden aber abgestiegen sind die Hamburger noch nicht!
Zurück zum Sportclub, der auf Stuttgart trifft und bei mir Lust auf das bevorstehende Spiel hervorruft. Das gute Bauchgefühl rührt vielleicht auch aus dem Jahr 2013, als der SC die Schwaben am 25. September im DFB-Pokal mit 2:1 (0:0) besiegen konnte. „Matze“ Ginter und Mike Hanke machten damals die Tore und mit meinen Liveeinblendungen vom Derby wurde ich damals für den Medienpreis Baden-Württemberg nominiert; bemerkenswerter Weise nicht in der Rubrik „Livereportage“ oder „Sportberichterstattung“, die es beim Medienpreis der Landesanstalt für Kommunikation beide gar nicht gibt, sondern in der Rubrik „Information“. Die Nominierung war mir eine Ehre – dass ich in einem Wahljahr in dieser Kategorie nicht gewinnen konnte, war mir vorher schon klar. Trotzdem war es eine große Nummer und begleitet den großen Strauß an eher positiven Empfindungen, wenn der SC auf den VfB trifft.
Getrübt wird die Vorfreude auf den morgigen Kick heute durch die Nachricht, dass Hoffnungsträger Yoric Ravet sich einen Muskelfaserriss zugezogen hat und gegen Stuttgart, wie schon in Berlin, nicht zur Verfügung steht. Keinen Zweifel ließ Trainer Christian Streich vorhin, in der obligatorischen Pressekonferenz, am Startelfeinsatz von „Chico“ Höfler. Gut möglich, dass auch Marco Terrazzino, der in Heimspielen erfahrungsgemäß wertvoller ist und besser spielt als auswärts und Rekonvaleszent Mike Frantz zu Startelfeinsätzen kommen. Allrounder Frantz könnte in einer Dreierreihe mit Terrazzino und Haberer hinter der vordersten Spitze Nils Petersen eine ballsichere und erfahrene Ergänzung im Spiel des SC sein. Bei einer solchen Formation wären dann Lucas Höler und Tim Kleindienst zunächst auf der Bank. Interessant wird es auch sein, zu beobachten, wie Streich hinten rechts entscheidet. Gibt er – wie in Berlin - dem zweikampfstarken und vornehmlich in der Defensive starken Lukas Kübler den Vorzug oder setzt er auf den im Spiel nach vorne dynamischeren Pascal Stenzel? Fragen über Fragen und am Ende muss alles zusammenpassen und die Mannschaft möglichst optimal funktionieren, um einmal mehr einer individuell besser besetzten Mannschaft aus einem wirtschaftlich besser aufgestellten Verein die Stirn zu bieten, einen Punkt zu holen oder – im optimalen Fall – auch drei.
30 Punkte hat der SC bislang gesammelt, braucht aus den verbleibenden acht Spielen, darunter die Duelle mit den Kellerkonkurrenten Mainz, Wolfsburg und Köln, noch drei Siege, um auf der sicheren Seite zu sein. Die Ausgangsposition ist richtig gut, angesichts der Knüppel, die dem SC durch die Abgänge der besten Kreativspieler auf der einen Seite und langwieriger Verletzungen wichtiger Leistungsträger auf der anderen Seite zwischen die Beine geworfen wurden. Dass hoffnungsvolle Talente wie Ryan Kent aus Liverpool und der polnische EM-Teilnehmer Bartosz Kapustka von Leicester City den hohen Ansprüchen der Bundesliga in der Kürze der Zeit nicht genügen konnten, kommt noch dazu. So lebt der SC Freiburg in dieser Saison mehr denn je vom Teamspirit und den taktischen Finessen von Streich und Co.
Morgen gegen Stuttgart… Meine eigene konkrete Vorbereitung beginnt mit diesem Tagebucheintrag und dem Besuch der Pressekonferenz. Fußballtechnisch geht es nachher noch weiter mit einem Testspiel der Bad Krozinger U10 (E2) mit Ben gegen den FC Neuenburg. Danach werde ich dann den SC-Talk für morgen Früh in der Morningshow „Lennert, Lisa und das Landei“ vorbereiten, mit dem für mich morgen der Spieltag beginnt. Der baden.fm-Bundesligashow am Freitagabend geht ein normaler Acht-Stunden-Tag im WZO-Verlag für mich voraus; nach dem Spiel ist dann Wochenende… eines ohne Reisen, ohne SC live, aber mit dem DFB-Pokalhalbfinale der U19 gegen Mönchengladbach um 14 Uhr im Möslestadion. Aber das ist Zukunftsmusik. Morgen gegen den VfB gilt es, einen weiteren großen Schritt Richtung Klassenerhalt zu machen. Jeder Punkt zählt! Mainz muss nach Frankfurt, Wolfsburg empfängt Schalke. Mit etwas Glück verlieren die beiden SC-Kontrahenten erneut, was (schon) einen Zähler gegen den VfB vergolden würde…
Das Fußballspiel
(Mein 901. SC-Livespiel)
Flapsig könnte man sagen, es war ein Scheißkick… Der nach einigen sehr erfolgreichen Wochen sehr selbstbewusst auftretende VfB kam schon nach vier Minuten, nach einem Freistoß vom ex-Freiburger Dennis Aogo durch einen Kopfball von Nationalstürmer Mario Gomez zur 1:0-Führung und damit auf die Siegerstraße. Der SC wirkte in den verbleibenden gut 41 Minuten bis zur Pause verunsichert und angeschlagen durch den frühen Rückstand vor eigenem Publikum. In der eigenen Hälfte gab es ungewohnte Ballverluste und Fehlpässe, im Angriff lief wenig zusammen. Ein Scheißkick halt.
Da der VfB zunächst Richtung Schwarzwaldstraße kickte, war ich hoch oben auf der Pressetribüne und im Bereich der anderen Spielhälfte sitzend, denkbar schlecht platziert, um zu sehen, dass die Stuttgarter Führung objektiv irregulär war. Die Wenigsten im Stadion hatten das mitbekommen, selbst die Unparteiischen nicht, sonst hätten sie ja eingegriffen. Der Videoassistent hätte eingreifen müssen, hat sich in dieser Situation aber einmal mehr lächerlich gemacht. (Hintergründe zur Situation später)
In der zweiten Hälfte kickte der SC besser. Acht Minuten nach Wiederbeginn funkte Nils Petersen den Schwaben in deren Hälfte aufmerksam dazwischen, spielte den Ball zu Nikolas Höfler und startete sofort, in halblinker Position in die berühmte Gasse. „Chico“ erkannte den Raum und bediente Nils prompt, der dann, trotz Bedrängnis durch zwei heran spurtende VfB-Verteidiger, die Kugel mit unglaublich viel Ballgefühl über den zu weit vor seinem Tor postierten Ron-Robert Zieler hinweg ins lange Eck „chippte“ – 1:1, alles wieder gut und der Sportclub jetzt auf Augenhöhe mit den starken Gästen, die vor der Pause klar dominiert hatten. Da der Verein aus der Landeshauptstadt sich vor einigen Wochen den Luxus erlauben konnte, Mario Gomez aus Wolfsburg zu verpflichten, kamen die Schwaben dann aber doch noch zum - vornehmlich angesichts der ersten Spielhälfte – verdienten Dreier. In der 75. Minute nahm Gomez eine Flanke auf, spielte „Bande“ mit Alexander Schwolow und drückte den Ball dann irgendwie über die Linie. Dass ein Aufnahmefehler in der SC-Abwehr vorausging, ist selbstredend… 1:2, die Punkte waren futsch. Dennoch hat das Tor von Nils Petersen und wie es zustande kam, durch ein tolles Zusammenspiel mit dem endlich wieder gesunden und einsatzbereiten Nikolas Höfler, mir persönlich Mut gemacht. Demnächst - vielleicht schon auf Schalke - sind dann auch Mike Frantz und Yoric Ravet wieder mit von der Partie, was den SC einfach fußballerisch deutlich stärker machen wird.
Das Nachspiel
In der Pressekonferenz machte Christian Streich auf die übersehenen Abseitsstellungen zweier Stuttgarter Spieler vor dem 0:1 durch Gomez aufmerksam. Ich schaute mir die Szene dann einige Male via Bildschirm an und konnte kaum glauben, dass Felix Brych diese Regelwidrigkeiten entgangen waren. Brych war am Freitagabend Videoassistent in Köln. Verschiedene Medien griffen die Thematik auf, was dazu führte, dass selbst „Oberschiedsrichter“ Lutz Michael Fröhlich das Wort ergriff und sich gewissermaßen rhetorisch kunstvoll hinter seinen Videoassistenten stellte. Das machte mich zunächst sprachlos… Bis ich meine Kolumne für die Wochenzeitungen am Oberrhein zu schreiben hatte. Da wurde ich dann deutlich:
SC INTEAM
Der VfB Stuttgart hat am Freitagabend vor ausverkauftem Haus im Schwarzwald-Stadion den besseren Fußball gespielt und am Ende verdient mit 2:1 gewonnen. Niemand weiß allerdings, wie die Leistungen beider Teams sich entwickelt hätten, wenn es die frühe Führung der Schwaben nicht gegeben hätte. Waren doch Freiburger Unsicherheiten insbesondere nach dem 0:1, das Nationalstürmer Mario Gomez in der 4. Minute per Kopf erzielt hatte, und bis zur Pause, in der Christian Streich noch einmal massiv Einfluss auf seine Mannschaft nehmen konnte, augenfällig. Die Spielentwicklung war durch das frühe Gegentor mehr als ungünstig für den Sportclub – das Dilemma: Der Treffer von Gomez war objektiv irregulär; das 0:1 hätte nicht zählen dürfen. Was den meisten Zuschauern von der Tribüne aus entgangen war, blieb offenbar auch den Unparteiischen auf dem Platz verborgen: Die Stuttgarter Spieler Gentner und Thommy standen bei Aogos Freistoßflanke im Abseits. Als sie dann aktiv die Freiburger Abwehrspieler blockten, war das – wenn es auch meistens nicht so gewertet wird – eigentlich ein Foul, in jedem Fall aber war es ein aktives Eingreifen ins Spielgeschehen, was aus der vorherigen passiven Abseitsstellung ein zu sanktionierendes aktives Abseits machte. Wie jeder Fußballinteressierte seit der jüngsten Konkretisierung der Aufgaben des Videoassistenten weiß, wird jedes Tor vom Mann am Bildschirm in Köln auf eventuelle Regelverstöße hin kontrolliert. Dennoch wurde der beschriebene eindeutige Sachverhalt übersehen. Das war ein eklatanter Fehler von FIFA-Schiedsrichter Felix Brych, der am Freitag als Video-assistent fungierte. Noch schlimmer ist allerdings, dass sich sein oberster Chef, Lutz Michael Fröhlich, öffentlich hinter Brych stellte und in der Beschreibung der Spielsituation das aktive Blockieren seitens Gentner und Thommy einfach nicht zur Kenntnis nahm und so „alternative Fakten“ schuf, um es in der Trump-Terminologie auszudrücken. Fehler dürfen passieren; bei Schiedsrichter Benjamin Brand und seinen Assistenten auf dem Platz war es halbwegs verständlich. Felix Brych am Bildschirm in Köln hätte den Fehler erkennen müssen. Was sich Lutz Michael Fröhlich aber leistet, ist der eigentliche Skandal, der Fußball-Deutschland in die Nähe einer Bananenrepublik rückt.
Zum Abschluss etwas Erfreuliches: Volker Finke, von 1991 bis 2007 Trainer und Vordenker beim SC Freiburg, feiert am Samstag seinen 70. Geburtstag. Als 2006, in rauen Zeiten, einige Krakeler im Stadion begannen, „Finke raus!“ zu rufen antworteten gegnerische Fangruppen gerne mit dem Gesang: „Ohne Finke, wärt ihr gar nicht hier!“ Letztere hatten recht. Finkes Bedeutung für den SC ist unvergessen. Glückwunsch, Trainer! (Zitatende)
Da Mainz und Wolfsburg ihre Spiele verloren haben, ist im Abstiegskampf nicht wirklich etwas passiert. Klar, Der SC hat die Chance verpasst, seinen aktuellen Fünf-Punkte-Vorsprung vor Platz 16 noch weiter auszubauen, aber der Vorsprung wurde auch nicht kleiner. Da mache ich mir keinen Kopf – der SC wird die zum Klassenerhalt nötigen Punkte holen.
Trotzdem war ich das ganze Wochenende über verstimmt, ließ sogar das Pokalhalbfinale der U19 gegen Mönchengladbach (2:0) sausen und blieb lieber daheim bei Frau und Kindern. Als ich allerdings via Internet von der Finalteilnahme der SC-Talente am Pfingstsamstag in Berlin erfuhr buchte ich sofort meine Reise. Ich denke, wie bei den beiden letzten Finalteilnahmen des SC (gegen Schalke und gegen Hertha) werden wir von baden.fm am 19. Mai live dabei sein, wenn die U19 ihre Hand nach dem Pokal ausstreckt. So habe ich Flugreise (Zürich – Berlin war weit günstiger als Basel – Berlin) und Hotel schon mal zu halbwegs erträglichen Preisen gesichert.
Am kommenden Wochenende kicken dann Jogis Jungs und die meisten SC-Recken können sich ein wenig erholen. Ich mich auch… Und Ihr habt Ruhe vor mir (Smile). Wir lesen und hören uns vor dem Schalke-Spiel!!!